Wo sich die Erde befindet: Antike Weltbilder im Vergleich
«Wir leben auf einem blauen Planeten, der sich um einen Feuerball dreht, mit ‘nem Mond, der die Meere bewegt – und du glaubst nicht an Wunder?»[1]
Die Unfassbarkeit unseres Kosmos fasziniert vermutlich die meisten, die sich Gedanken dazu machen. Dementsprechend ist es nicht verwunderlich, dass dies auch schon in der antiken Philosophie ein oft aufgegriffenes Thema war. Heutzutage ist man sich, mit einigen Ausnahmen, einig, wie unser Sonnensystem aufgebaut ist und welche Dynamiken sich darin abspielen. Dem war aber längst nicht immer so: bis weit ins achtzehnte Jahrhundert waren beispielsweise sämtliche Werke, welche ein heliozentrisches Weltbild vertraten, verbannt.[2] In der Antike waren verschiedene Kosmos-Auffassungen heiss umstritten, lösten sich gegenseitig ab und wurden überholt. Dass diese Weltanschauungen für das Gesellschaftsdenken von grosser Relevanz waren, liegt auf der Hand: nicht nur bestimmen sie unseren Platz im Universum, sie bildeten auch oftmals die Grundpfeiler für Religion, Mythen und Glaube. Dementsprechend bildet die Entwicklung der kosmologischen Auffassung ein wichtiges Interessengebiet der antiken Geschichtsforschung.
Die Geschichte der Kosmosanschauung in ihrer Gänze zu untersuchen würde den Umfang dieses Papers bei weitem sprengen, weswegen ich mich auf einige der wichtigsten antiken Philosophen, welche dazu beigetragen haben, beschränke: Philolaos, Platon und Aristarchos.
Philolaos[3]
«The world‘s nature is a harmonious compound of infinite and finite elements.»[4]
Philolaos war ein griechischer Philosoph, der im fünften Jahrhundert vor Christus gelebt hat. Er war ein Anhänger der Pythagoreer und hat viele pythagoreische Grundideen entwickelt, welche sich hauptsächlich mit der Kosmologie und der Musiktheorie befassen. Heute sind nur noch sehr wenige seiner Schriften erhalten, weswegen seine Theorien meist nur aus zweiter Hand überliefert wurden – so hat sich beispielsweise Aristoteles oftmals mit Philolaos und seinen Anschauungen auseinandergesetzt.
Philolaos’ Kosmologie ist nach heutigem Wissen die erste, welche nicht die Erde als Zentrum des Universums auffasst. Der Philosoph glaubte an ein Zentralfeuer, um welches sämtliche Planeten sowie die Sonne und der Mond kreisen. Auf der innersten Bahn befinde sich gemäss Philolaos die Erde, in der folgenden der Mond, dann die Sonne. Darauf folgten fünf weitere Bahnen mit den fünf bekannten Planeten (Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn). Ausserdem glaubte Philolaos an die Existenz einer sogenannten Gegenerde, auf welche ich später noch genauer eingehen werde. Damit bestand Philolaos’ Kosmologie aus zehn Himmelskörper. Umschlossen werde dieser Kosmos von einem Himmel aus fixierten Sternen.
Philolaos glaubte an eine scheibenförmige, flache Erde, welche sich nebst ihrer Rotation um das Zentralfeuer auch um sich selbst drehe. Damit sei immer dieselbe Seite dem Zentralfeuer zugewandt – wir befänden uns auf der abgewandten Seite, weswegen wir das Zentralfeuer nie sehen könnten. Damit war Philolaos der erste Philosoph, welcher die tägliche Rotation der Himmelskörper erklären konnte.
Gemäss Philolaos existiere aber nicht nur unsere Erde, sondern auch eine Gegenerde, welche sich auf derselben Bahn, aber auf der entgegengesetzten Seite des Zentralfeuers befinde. Die Gegenerde sei in Grösse und Form identisch mit unserer Erde. Es bleibt unklar, weshalb Philolaos an die Gegenerde glaubte. Die wahrscheinlichste Erklärung bezeichnet die Gegenerde als eine mechanische Notwendigkeit: man geht davon aus, das Philolaos dachte, sie sei nötig, um das Gewicht der Erde auszubalancieren, damit der Kosmos nicht ausser Balance gerate und kippe. Die anderen Planeten brauchen kein solches Gegengewicht, da diese gemäss Philolaos nicht massiv, sondern gasförmig und damit sehr leicht waren.
Philolaos’ Musiktheorie ist eng mit seiner Kosmologie verknüpft: er war davon überzeugt, dass die um das Zentralfeuer kreisenden Himmelskörper aufgrund ihrer Bewegung sehr laute Töne verursachen müssen. Diese können wir nicht hören, da sie konstant sind und wir so sehr an sie gewohnt seien, dass wir sie ausblenden. Dabei habe jede der acht Bahnen ihren eigenen Klang, welcher zusammen mit den anderen Klängen die «himmlische Harmonie» bilde.
Es gibt einiges, was Philolaos’ Kosmologie ausser Acht lässt: sie kann beispielsweise nicht erklären, weshalb man einen unterschiedlichen Sternenhimmel wahrnimmt, je nach dem, wo man sich befindet. Dennoch leistet die Theorie so manches: sie ist die erste, welche die tägliche Rotation der Himmelskörper erklären kann. Ausserdem erkannte Philolaos erstmals die Drehung der Erde um sich selbst. Zusätzlich war seine Kosmologie die erste uns bekannte, welche nicht die Erde als das Zentrum des Universums betrachtet.
Platon[5]
«He was good and in the good there can be no envy at any time about anything.»[6]
Platon war ein griechischer Philosoph, der von 428 – 348 vor Christus in Athen lebte. Er war ein Schüler von Sokrates und einer von Aristoteles’ Lehrern. Platons kosmologische Auffassungen grenzten sich von jenen der Vorsokratiker ab, indem Platon der Überzeugung war, dass der Kosmos von einem Gott, dem «Handwerker», erschaffen worden sei. Im Gegensatz dazu glaubten die Vorsokratiker, dass die kosmologische Ordnung nicht erschaffen wurde, sondern ein unweigerlicher Teil der Natur sei.
Gemäss Platon zeichne sich der Handwerker durch seine Liebe zur Ästhetik und zur Schönheit aus, weswegen es klar sei, dass der Kosmos seine Reproduktion der idealen Form einer lebenden Kreatur sei. Damit sei der Kosmos durch seine Seele, seine Einzigartigkeit und seine Rundheit ausgezeichnet. Ausserdem sei er durch die Zeit bestimmt.
Im Zusammenhang mit seiner Kosmologie ist auch Platons Theorie der Elemente von zentraler Bedeutung. Gemäss Platon habe der Handwerker das Universum aus den fünf Elementen geschaffen, welche die kleinsten, unteilbaren Einheiten bilden. Diese Elemente (Feuer, Luft, Wasser, Kosmos und Erde) haben jeweils die Form eines perfekten platonischen Körpers, was die Liebe des Handwerkers zur Ästhetik widerspiegelt.Platons Auffassung einer Seele ist die Verbindung zwischen dem Sein und dem Werden; zwischen den Dingen, wie sie sind, und ihrer Zukunft. Diese Verbindung entspreche der Bewegung, weswegen Platon die Seele des Kosmos als das «Bewegende» ansieht. Dieses Bewegende versteht Platon als einen Ring, der den Kosmos als dessen äusserste Schicht umschliesse. Der Philosoph erklärt die Bewegung der Erde, welche er als «himmlische Bewegung» bezeichnet, mit Hilfe der Seele des Kosmos: Diese, also das Bewegende, stosse die Erde an, damit sie rotiert. Alle anderen Himmelskörper (Sonne, Mond und fünf Planeten) werden durch weitere sieben Ringe angestossen, welche ihrerseits durch die Bewegung der Erde bewegt werden. Dementsprechend sei die Seele des Kosmos das einzige an sich Bewegende. Sämtliche andere kosmologischen Bewegungen seien mechanische Folgen davon.
Aristarchos[7]
Aristarchos von Samos war ein griechischer Astronom und Mathematiker, der von 310 – 230 vor Christus auf Samos gelebt hat. Aristarchos gilt als der erste Vertreter des heliozentrischen Weltbildes. Wie auch von Philolaos, sind heute nur noch wenige Werke von Aristarchos erhalten. Im einzigen Buch, welches noch vollständig erhalten ist, vertritt Aristarchus noch ein geozentrisches Weltbild – spätere Schriften anderer Philosophen, welche Aristarchos zitieren zeigen aber, dass dieser später ein heliozentrisches Weltbild entwickelte.
Zentral für Aristarchos’ Kosmologie sind seine Berechnungen der Grössen und Entfernungen der Himmelskörper. So war Aristarchos der Überzeugung, dass sich die Erde in einem 87°-Winkel zwischen dem Mond und der Sonne befinde, und dass sowohl die Sonne als auch der Mond mindestens 19-mal so gross seien, wie die Erde.
Aristarchos gilt als der erste Astronom, welcher die Ansicht vertreten hat, dass sich sämtliche Planeten inklusive der Erde um sich selbst drehen. Die im Mittelpunkt seines Kosmos stehende Sonne, sowie die sich aussen befindenden Sterne seien fixiert.
Als erster Vertreter des heliozentrischen Weltbildes, welches schliesslich erst im achtzehnten Jahrhundert allgemein angenommen wurde, wurde Aristarchos von vielen Seiten kritisiert. Als Hauptkritiker gelten Claudius Ptolemäus und einige aristotelische Physiker. Ein wichtiger Vorwand gegen Aristarchos war, dass ein geozentrisches Weltbild die Bewegung der Himmelskörper am besten erklären konnte: wenn die Erde den Mittelpunkt des Universums bildet, und sich diese dreht, dann liegt es auf der Hand, dass sich alles um sie herum dreht.
Gemäss den erhaltenen Texten scheinen Aristarchos’ Argumente für seine Kosmologie nicht sehr standfest, und er scheint kaum auf Kritik eingegangen zu sein. Dennoch sind seine Leistungen als Astronom bemerkenswert, zumal er als einziger Philosoph zu seiner Zeit erkannt hat, dass sich die Erde um die Sonne dreht.
Epilog
Auf Aristarchos’ Kosmologie folgten viele weitere Theorien, die einander stets ablösten. Obwohl man sich heutzutage über die Kosmologie einig zu sein scheint, sollte nicht vergessen werden, dass das Kosmologische Prinzip erst seit 1930 an Anerkennung gewann. Dementsprechend ist es wahrscheinlich, dass auch unsere Kosmos-Auffassungen irgendwann wieder überholt werden, und die Position der Erde im Universum wieder neu bestimmt wird.
Die Geschichte der Kosmologie verspricht also, noch lange weiter zu reichen. Und wer weiss, vielleicht wird es uns nie gelingen, das Universum in seiner Gänze zu erfassen und zu verstehen. Immerhin sind wir nichts weiter als kleine Menschen auf einem blauen Planeten, irgendwo in einem unendlichen Universum. Vielleicht sollten wir auch einfach an Wunder glauben.
Quellen
Aristoteles; Platon: Raphael School of Athens, 1510, in: Booth, Ariel: Defining Rules for Western Cosmology, 2016.
Burch, Georg B: The Counter-Earth, in: Osiris Volume 11, Chicago 1954, p. 267-294.
Lindberg, David C.: The Beginnings of Western Science, University of Chicago Press, 1992, S. 85 – 109.
Lloyd, G. E. R: Early Greek Science: Tales to Aristotle. Plato. London 2012. S. 66-79.
Meinwald, Constance: Plato, Encyclopaedia Britannica, 2020.
Platon: Plato’s Cosmos I.: Theory of Celestial Motions, in: Vlastos, Gregory: Plato’s Unvierse, Parmenides 2005 , P.23-65.
Wall, Byron Emerson: Anatomy of a precursor, the historiography of Aristarchos of Samos, in: Stud. Hist. Phil. Sci. 6, No. 3, 1975, S. 201 – 228.
[1] Materia: Welt der Wunder, auf: Materia: Zum Glück in die Zukunft II, Four Music 2014.
[2] Erst nach Newtons physikalischer Begründung des heliozentrischen Weltbildes hob Pabst Benedikt XIV. 1757 den Bann gegen die Werke auf, welche ein heliozentrisches Weltbild vertraten.
[3] Sämtliche Angaben zu Philolaos und seinen Theorien berufen sich auf: Burch, Georg B: The Counter-Earth, in: Osiris Volume 11, Chicago 1954, p. 267-294.
[4] «Die Natur der Welt ist eine harmonische Zusammensetzung aus endlichen und unendlichen Elementen» (Philolaus, The Life of Pythagoras, Übersetzung von Lara Koch).
[5] Sämtliche Angaben zu Platon und seinen Theorien berufen sich auf: Aristoteles; Platon: Raphael School of Athens, 1510, in: Booth, Ariel: Defining Rules for Western Cosmology, 2016.
[6] «Er war gut, und im Guten kann kein Neid sein, zu keiner Zeit, auf gar nichts.» (Plato’s Cosmos I.: Theory of Celestial Motions” in Vlastos, Gregory: Plato’s Unvierse, Parmenides 2005, P.27, Übersetzung von Lara Koch).
[7] Sämtliche Angaben zu Aristarchos und seinen Theorien berufen sich auf: Lindberg, David C.: The Beginnings of Western Science, University of Chicago Press, 1992, S. 85 – 109.