Die Legitimität der Geschichtsschreibung, oder: Die Geschichte eines Kieselsteins
Dürfen Sie eigentlich Geschichte schreiben? Vielleicht sind Sie ein Student, vielleicht sind Sie langjährige Historikerin. Vielleicht sind Sie auch einfach jemand, der an der Magie vergangener Zeiten interessiert ist und es sich zum Hobby gemacht hat, darüber zu schreiben. So oder so – irgendwann haben Sie bestimmt schon einmal Inne gehalten und sich überlegt: „Darf ich das überhaupt? Darf ich Geschichte schreiben?“. Die meisten von Ihnen haben diese Gedanken vermutlich aus Ihrem Kopf verbannt, irgendwo gut eingeschlossen und den Schlüssel weit, weit weggeworfen, um trotz der Zweifel weiter zu machen. Das ist verständlich. Der Gedanke nur schon an die Möglichkeit, dass Geschichtsschreibung nicht legitim ist, ist beängstigend. Aber keine Angst, Sie können das Schloss wieder aufschliessen. Behalten Sie Ihren Lieblingsstift in der Hand, vergraben Sie sich weiterhin in Bergen von Büchern, und schreiben Sie. Sie dürfen nämlich nicht nur Geschichte schreiben, Sie sollen sogar. Lassen Sie mich erklären:
Geschichte besteht ja bekanntlich aus Geschichten, also werde ich mit einer Geschichte beginnen. Wenn Sie das nächste Mal in Winterthur sind, schauen Sie sich den Stadtbrunnen an. Dort liegt ein Kieselstein, und dieser Kieselstein erzählt: „Ich bin alt. Sehr, sehr alt. Ich stamme aus einer Zeit, in der die Welt noch glücklich war. Ich lag irgendwo am Rande eines Hauses, in dem man lebte, wie es sich zu leben gehörte. Der Vater arbeitete hart, die Kinder halfen mit, wo immer sie konnten. Es war nicht einfach, aber es war genug. Die Mägen waren jeden Abend gefüllt und manchmal konnte die Mutter abends sogar mit der teuren weissen Wolle weben. Doch eines Tages klopfte es an der Tür. Ein Mann stand da, er trug einen glänzenden Helm und eine schimmernde Lanze. Er nahm eine unserer Kühe mit, als Abgabe für den Kaiser. Die Mutter wusste nicht, wer der Kaiser war, – auch der Vater wusste es nicht. Aber der Mann kam immer wieder. Wir verloren unser Land und unser Haus, auch einige der Kinder. Die Mägen konnten nicht mehr gefüllt werden, und mit weisser Wolle nie mehr gewebt werden. Eines Tages mussten wir wegziehen. Ein Kind nahm mich mit, es wollte mit Steinen einen Weg legen, um wieder heim zu finden. Ich blieb lange in seiner Tasche verborgen. Wir trafen eine Gruppe von Leuten, die, wie wir, ihr Land an den Kaiser verloren hatten. Sie nannten sich die Alamannen, und sie wollten sich ein neues Zuhause suchen. Ob wir uns Ihnen anschliessen wollten? Gern, und vielen Dank. So zogen wir durch die Welt, auf der Suche nach Land. Wir nahmen nicht mehr als das, was wir brauchten. In einem Dorf, es hiess Vindonissa, bekamen wir Getreide und sogar etwas Fleisch. Wir zogen weiter und fanden ein Feld mit Äpfel- und Kirschbäumen. Doch als wir unsere hungrigen Mägen füllen wollten, wurden wir angegriffen. Das sei das Eigentum des Kaisers, hiess es. Wir konnten uns verteidigen, doch im Chaos fiel ich aus der Tasche des Jungens ins Gras, wo ich viele Jahre liegen blieb. Das Dorf nebenan wuchs zu einer Stadt um mich herum. Irgendwann hob mich eine Kinderhand auf, trug mich mit und warf mich in diesen Brunnen. Oft frage ich mich, was aus meinen Leuten geworden ist. Wurden sie glücklich? Oder haben der Kaiser und die Lanzenträger des Dorfes ihnen auch noch das letzte genommen?“
Pssst, hören Sie das? Es kommt von dort drüben. Ach, da liegt ja noch ein Kieselstein. Lacht er? Er lacht. „Du erzählst diese Geschichte doch völlig falsch. Lass mich dir erzählen, wie es wirklich war: Das Dorf, auf das ihr auf eurem Weg von Vindonissa gestossen seid, hiess Vitudurum, und ich war Teil der Steininschrift über seinem Haupttor. Ich sass direkt über dem T von „IMP. CAES. C. AURE. VAL. DIOCLETIAN.“. Es war ein unschuldiges Dorf. Dort drüber stand eine Schmiede, nebenan eine Schuhmacherei. Auch hier war das Leben hart. Nur ab und an konnten wir uns Waren von den durchreisenden Händlern leisten, die von Vindonissa nach Centum Prata wollten. Mit den Äpfeln und Kirschen, die ihr stehlen wolltet, hielten wir unsere Kinder am Leben. Wir hatten nicht viel, und viel mussten wir an Kaiser Diokletian abgeben – als Gegenleistung für seinen grossmütigen Schutz. Deine Leute sind immer und immer wieder gekommen. Sie haben uns angegriffen, sie wollten uns alles nehmen, sie wollten uns vertreiben. Bis Diokletian in seiner Grosszügigkeit eine Mauer bauen liess. Vitudurum war endlich sicher, es lebte friedlich und wuchs durch die Sommer und Winter bis es zu dem Winterthur wurde, dass es heute ist. Also…“
Ja, es ist gut, Kieselstein, Danke. Wir haben es verstanden: Geschichte ist subjektiv. Wie soll man bei so vielen verschiedenen Ansichten noch wissen, wo die Wahrheit liegt? Gerade in der heutigen Zeit, in der sich die Welt immer schneller dreht, würde man gerne sagen: „Stopp, Halt. Und jetzt bitte 629‘993 mal zurück drehen.“ (Bevor sie den Rechner zücken – die Zahl entspricht der Anzahl Erdendrehungen, seit dem im Jahre 294 n.Chr. die Kastellmauer um Vitudurum erbaut wurde). Aber das geht ja leider nicht, und so halten wir fest: Über eine Vergangenheit, die subjektiv und ausserdem vergangen ist, kennen wir die Wahrheit nicht.
Gemäss der von Platon erstmals entwickelten klassischen Analyse von Wissen[1] ist Wissen eine gerechtfertigte, wahre Überzeugung. Wahr. Merken Sie es schon? Die Vergangenheit ist nicht wahr. Genau genommen ist die Vergangenheit nicht einmal wahrheitsfähig, sie kann weder wahr, noch falsch sein. Denn die Vergangenheit an sich ist subjektiv, es ist nichts mehr da, anhand dessen wir sagen können: „Schau, das ist die Vergangenheit. So ist sie, so ist sie wahr. So und nicht anders“. Denn die Vergangenheit existiert nicht mehr. Wir kreieren sie, in dem wir forschen, schreiben und erzählen, und damit ist sie subjektiv – jeder von uns kreiert sie anders. Diese neue oder besser alte Welt, die wir erschaffen, kann unmöglich wahrheitsfähig sein – wir erschaffen sie ja. Die Vergangenheit ist nicht wahr. Also kann unser Wissen über die Vergangenheit kein Wissen sein. Wir schreiben also Geschichte über eine Vergangenheit, von der wir gar nichts wissen – Dürfen wir das? In dem wir von einer Vergangenheit schrieben, die nicht wahr ist und die es somit nie gegeben hat, kreieren wir sie und damit machen wir Geschichte. Ist das legitim? Oder sollen wir nicht besser damit aufhören, Geschichte zu machen? Dann wäre auch Fukuyama zufrieden, der ja ein Ende der Geschichte vorausgesagt hat[2]. Vielleicht meinte er nicht dieses Ende, aber immerhin ein Ende.
Seien Sie nicht traurig, ich habe Ihnen doch versprochen, dass Sie Ihren Lieblingsstift in der Hand behalten dürfen. Haben Sie noch etwas Geduld. Also nochmals: Wir wissen nichts über die Vergangenheit. Aber muss Geschichte denn überhaupt erzählen, was einmal gewesen war? Dieser Objektivitätsanspruch der Geschichte, der bereits im direkten Anschluss an den Historismus zu bröckeln begann, ist veraltet. Die Geschichte leistet viel, und das, was sie leistet, reicht völlig aus: Sie erzählt, wie es einmal gewesen sein könnte. Wenn wir also vom grausamen Machtdurst des Kaisers Diokletian schreiben, oder von den skrupellosen Alamanneneinfällen, dann schreiben wir nicht, wie es einmal gewesen war. Wir schreiben, wie es hätte sein können, wir kreieren mögliche Welten und machen damit Geschichte – Geschichte, die weiterleben darf, Geschichte, die ewig währt – und lernen kann man von diesen möglichen Welten sogar mehr. Sie helfen einem, die Welt ein bisschen besser zu verstehen und die Zukunft ein bisschen besser zu gestalten.
Ausserdem, wer weiss? Wir leben auf einem blauen Planeten, der sich um einen Feuerball dreht, mit einem Mond, der die Meere bewegt – Wunder existieren. Vielleicht schreiben ja gerade Sie tatsächlich die wahre Vergangenheit nieder. Also los, halten Sie Ihren Stift! Schreiben Sie, machen Sie Geschichte! Sie dürfen.
[1] Platon, Theaitetos, 201d-206b. Die klassische Analyse des Wissens besagt, dass folgende Bedingungen erfüllt sein müssen, damit ein Subjekt S eine Proposition p weiss. P muss wahr sein, S muss von der Wahrheit von p überzeugt sein, und diese Überzeugung muss gerechtfertigt sein
[2] Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? München 1992. Fukuyama stellte die These auf, dass sich die Welt durch die liberale Demokratisierung der Staaten auf ein notwendiges, ideales Ende der Geschichte zubewegt.
