Ewige Geschichte
Eine Argumentation gegen Fukuyamas Ende der Geschichte
In The End of History von 1992 erklärt Francis Fukuyama sein Verständnis von Geschichte und stellt die These auf, dass diese durch das Erreichen der Demokratie ende.[1] Im Folgenden möchte ich diese These widerlegen.
Fukuyama beschreibt die Geschichte als einen «einzigartigen, kohärenten Prozess, der die Erfahrungen aller Menschen aller Zeiten umfasst».[2] Damit schliesst er sich sowohl Friedrich Hegel als auch Karl Marx an, welche beide von einem zielgerichteten geschichtlichen Prozess ausgehen. Gemäss Hegel bildet der preussisch-deutsche Weltgeist das Ziel der Geschichte, für Marx ist es eine klassenlose Gesellschaft, auf die der geschichtliche Prozess hinauslaufe. Auch Fukuyama sieht ein Ende der Geschichte vor: die liberale Demokratie. Mit dem Erreichen dieser höchsten Staatsform, so Fukuyama, sei kein weiterer Fortschritt mehr möglich, womit der geschichtliche Prozess und damit die Geschichte selbst ein Ende nehme.[3]
Dagegen lässt sich einwenden, dass es unmöglich ist, eine perfekte liberale Demokratie auf der ganzen Welt zu errichten – und zwar weil dies gar nicht im Interesse der Staaten liegen würde: Wie die Dependenztheorie[4] besagt, liegt es nicht im Interesse der stärkeren Staaten, dass sich die schwächeren demokratisieren, da dies das Abhängigkeitsverhältnis zerstören würde, von dem die mächtigen Länder profitieren. Umgekehrt würden auch ärmere Staaten ihre Position nur ungern aufgeben, da ihre gesamte Wirtschaft auf die Abhängigkeit vom Westen ausgerichtet ist.
Dazu kommt, dass es, obwohl sich einige Staaten der Demokratie zugewendet haben, in vielerlei Hinsicht scheint, als würde sich die Welt in die entgegengesetzte politische Richtung wenden. In Spectres de Marx schreibt Jacques Derrida, dass man sich auf das zunehmende weltweite Leiden konzentrieren solle, anstatt ein Ende der Ideologie zu zelebrieren.[5] Obwohl die Demokratisierung vielleicht ein geschichtlicher Fortschritt sei, dürfe nicht vergessen werden, dass «aucun progrès ne permet d’ignorer que jamais […] autant d’hommes, de femmes et d’enfants n’ont été asservis, affamés ou exterminés sur la terre».[6] Damit wird deutlich: Es ist viel wichtiger, sich auf die Probleme der Menschheit zu fokussieren, als Fukuyamas perfekte Demokratie und das Idealbild seines vermeintlichen Endes der Geschichte zu feiern.
Ein weiteres Argument gegen Fukuyamas Ende der Geschichte ist, dass die weltweite liberale Demokratie, falls diese erreichbar wäre, nicht das Ende des geschichtlichen Fortschritts darstellen würde. Gemäss Fukuyama sei menschliches Handeln durch das Bedürfnis nach Anerkennung motiviert. Die liberale Demokratie bilde das Ende der Geschichte, weil diese Staatsform das Bedürfnis nach Anerkennung jedes Einzelnen ausreichend stillen würde.[7] Dieses Bedürfnis manifestiert sich jedoch nicht nur im Wunsch nach politischer Gleichheit. Ungleichheiten, wenn auch nicht politische, wird es immer geben – seien es finanzielle, akademische oder soziale. Ein Beispiel bietet der sportliche Wettkampf, durch den einzelnen Individuen deutlich mehr Anerkennung zugesprochen wird als anderen. Eine konkurrenzfreie Welt mag vielleicht denkbar sein, ist aber nicht das, was die liberale Demokratie per se mit sich bringt. Ungleichheit wird es also immer geben, und damit auch den Kampf um Anerkennung – womit die Geschichte niemals enden kann.
Auch Samuel Huntington präsentiert ein Argument gegen Fukuyama: In The Clash of Civilizations schreibt Huntington, dass die liberale Demokratie zwar das Ende des ideologischen Konfliktes mit sich bringen würde, dass Konflikte zwischen Zivilisationen aber weiterhin existieren würden.[8] Das liege in der Natur der Menschen, welche immer dazu verleitet sein würden, wie Welt in «Us and Them» zu unterteilen, in «the in-group and the other, our civilization and those barbarians».[9] Auch dieses Argument macht deutlich, dass die liberale Demokratie in allen Staaten nicht das Ende der Geschichte sein kann.
Abschliessend lässt sich sagen, dass Fukuyamas Theorie die Geschichte eindeutig nicht abschliessend zu erklären vermag. Das Ende der Geschichte, wie es Fukuyama aufzeigt, gibt es nicht – Geschichte währt ewig.
[1] Fukuyama, Francis: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? München 1992. (The End of History and the Last Man).
[2] Fukuyama, Francis: Ebd., S. 12.
[3] Ebd., S. 13-20.
[4] Die Dependenztheorie besagt, dass die Entwicklungsmöglichkeiten der Dritten Welt aufgrund ihrer hierarchischen Abhängigkeit zu den Entwicklungsländern begrenzt seien.
[5] Derrida, Jacques: Spectres de Marx, Paris 1993.
[6] Ebd., S. 141.
[7] Fukuyama, Francis: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? München 1992, S. 21-24.
[8] Huntington, Samuel: The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York 1996.
[9] Ebd., S. 8.