Wie demokratisch ist eine Demokratie?
Die Demokratie wird heutzutage vielerorts als Königsweg zum «perfekten politischen System» angesehen. Die Geschichte demokratischer Ordnungen reicht lange zurück: Bereits in den 560er Jahren v. Chr. tauchte der Begriff «demokratia» erstmals auf, jedoch in unklarem Kontext. Schon Herodot bezeichnete als Demokratie eine Verfassungsform, die er von der Monarchie und der Oligarchie abgrenzte. Als erstes Beispiel einer demokratischen Ordnung gilt die attische Demokratie, deren Entstehung sich auf das fünfte Jahrhundert v. Chr. datieren lässt. Obwohl unser heutiges System denselben Namen trägt, lassen sich klare Unterschiede zur attischen Demokratie erkennen.
Zentral für die moderne Demokratie ist, dass Macht und Regierungsgewalt beim Volk liegen. Meinungs- und Pressefreiheit, freie und gleiche Wahlen sowie das Konsensprinzip zählen zu den wichtigsten Merkmalen der modernen Demokratie. Demokratische Ordnungen erheben den Anspruch, politische Gleichheit zu garantieren. Jeder Stimmbürger zähle gleich viel und habe dieselben politischen Chancen. Dem mag vielleicht auf Papier so sein, tatsächlich ist die moderne Demokratie aber längst nicht so demokratisch. In vielerlei Hinsicht ist sie sogar noch weniger demokratisch, als es die antike attische Demokratie vor mehr als zweieinhalb tausend Jahren gewesen war.
In der heutigen Demokratie hat theoretisch jeder Stimmbürger die Möglichkeit, sich in eine politische Position wählen zu lassen. Dadurch sollte politische Gleichheit ermöglicht werden: Jeder erhält, unabhängig von seinem sozio-ökonomischen Status, dieselben politischen Chancen – zumindest rechtlich gesehen. Tatsächlich ist es aber nahezu unmöglich, die politische Karriereleiter ohne bestimmte Ressourcen zu erklimmen. So ist es beispielsweise sehr schwierig, ohne die Hilfe einer Partei Bekanntheit zu erlangen. Eine höhere Stellung in einer Partei erfordert wiederum meist ein bestimmtes Bildungsniveau sowie Fähigkeiten wie debattieren und eine gewandte Sprache. Ausserdem ist die Ausübung eines politischen Amtes in heutigen Demokratien meist mit hohen Kosten verbunden: Die Ämter werden selten gut entlöhnt, der Kandidat muss es sich also leisten können, eine gewisse Zeit mit einem geringeren Einkommen auszukommen. Zusätzlich muss die Kandidatur oftmals selbst bezahlt werden. Parteisysteme favorisieren ausserdem jene Stimmbürger, deren politische Ansichten mit denen einer bestimmten Partei übereinstimmen. Jemand, der mit keinem Parteiprogramm einverstanden ist, muss sich, sofern er sich politisch einbringen will, dennoch für eines entscheiden. Somit hat er viel geringere Chancen, dass seine Überzeugungen genau umgesetzt werden als jemand, der sich mit den Ansichten einer Partei voll und ganz identifiziert. Diese Aspekte zeigen, dass die moderne Demokratie zwar den Anspruch stellt, politische Gleichberechtigung zu garantieren, diesen aber nicht erfüllen kann.
Ein weiteres zentrales Merkmal heutiger Demokratien ist das Recht, zu wählen. Man ist der Überzeugung, dass politische Gleichberechtigung mit Hilfe des «one man – one vote» Systems erreicht werden kann. Dadurch hat jeder Bürger die Möglichkeit, seine Meinung in das politische Geschehen einfliessen zu lassen, und jede Meinung zählt gleich viel. Dies führt jedoch unweigerlich zu einer «Tyrannei der Mehrheit». Dadurch, dass jede politische Entscheidung unabhängig von den vorherigen getroffen wird, liegt die Entscheidungskraft immer bei der Mehrheit – selbst dann, wenn diese nur minim mehr als fünfzig Prozent beträgt. Dies ist insbesondere dann schwierig, wenn die Mehrheit eine Entscheidung trifft, von der nur eine Minderheit betroffen ist. Damit werden die Ansichten derer, die die Auswirkungen der Entscheidung tatsächlich erleben, oftmals nicht gehört. Es zeigt sich, dass das «one man – one vote» System zwar einen sehr demokratischen Eindruck macht, dieser jedoch täuscht.
Diese Kritik kann der antiken attischen Demokratie nicht entgegengebracht werden. Auch diese erhebt den Anspruch, sich durch Gleichheit vor Gesetz auszuzeichnen, jedoch weist sie viele Unterschiede zur modernen Demokratie auf. In seiner Verfassungsdebatte schreibt Herodot, die Herrschaft durch das Volk sei «von allen Fehlern frei, die die Alleinherrschaft aufweist. Sie besetzt die Ämter durch das Los, die Verwalter der Ämter sind verantwortlich, alle Beschlüsse werden der Gesamtheit vorgelegt»[1]. Auch Aristoteles unternahm einen Versuch, die attische Demokratie zu beschreiben, dabei bezeichnet er die Freiheit als das Grundprinzip der demokratischen Verfassung. Aristoteles schreibt:[2]
«[Es] ergibt sich, dass folgende Einrichtungen als demokratisch zu gelten haben: die Gesamtheit wählt die [Inhaber der] Ämter aus der Gesamtheit; die Gesamtheit regiert über jeden einzelnen, jeder Einzelne aber im Wechsel über die Gesamtheit; die Ämter werden durch Los besetzt […]; der Zugang zu den Ämtern hängt nicht von einer Vermögensqualifikation […] ab; ein und derselbe Mann kann kein Amt zweimal bekleiden […]; alle Ämter werden nur für eine kurze Zeitspanne bekleidet […]; die Gesamtheit […] entscheidet über sämtliche [Rechtsfälle]; die Volksversammlung hat souveräne Befugnis in allen […] Angelegenheiten, während kein Amt eine definitive Entscheidung in irgendeiner Sache trifft. […]»
Die attische Demokratie etablierte sich 509 v. Chr. durch die Kleisthenischen Reformen, die auf der solonischen Verfassung aufbauten. Ein zentrales Element der demokratischen Ordnung war die Ekklesia, die Volksversammlung, die sich aus allen Vollbürgern Athens zusammensetzte, und der das Initiativ- sowie das Amendierungsrecht zugesprochen wurde. Eine politische Vormachtstellung besassen die Oberbeamten, die sogenannten Archonten, sowie die zehn Strategen. Ausserdem war die Boule, der Rat der 500, von grosser Wichtigkeit.
In der antiken Demokratie war nicht das Wahlverfahren, sondern das Losverfahren von zentraler Bedeutung. Gewählt wurden nur Vertreter für diejenigen politischen Positionen, von denen man der Meinung war, dass sie spezielle Kenntnisse erforderten – so beispielsweise die Strategen, welche von der Volksversammlung einmal jährlich als Vertreter ihrer Phyle gewählt wurden. Die meisten anderen politischen Ämter wurden jedoch durch das Los bestimmt, einschliesslich der Archonten und der Richter.
Ein beliebtes Losverfahren, welches vor allem bei Gerichtsprozessen oftmals zum Einsatz kam, war das Kleroterion. Dabei handelt es sich um eine Losmaschine, mit deren Hilfe innert kürzester Zeit eine beliebige Anzahl Personen ausgelost werden konnten. Es bestand aus einer mit Schlitzen versehenen Platte und einer Röhre. Die Schlitze waren in einer bestimmten Anzahl von Spalten angeordnet, welche wiederum mit verschiedenen Symbolen bezeichnet waren. Das Kleroterion funktionierte so: jeder, der sich zur Wahl stellen wollte, steckte ein mit seinem Namen beschriftetes Holzplättchen in einen Schlitz der entsprechenden Kategorie. Anschliessend wurde eine bestimmte Anzahl weisser und schwarzer Murmeln in die Röhre gegeben, wobei die Anzahl der weissen Murmeln der Anzahl der zu besetzenden Ämter entsprach. Die Murmeln wurden dem unteren Ende der Röhre wieder entnommen: Eine schwarze Murmel bedeutete, dass die entsprechende Reihe von Plättchen nicht gewählt wurde, eine weisse bedeutete, dass die Personen, deren Plättchen in der entsprechenden Reihe steckten, ins Amt gewählt waren. Das Kleroterion wurde, nebst anderen Losverfahren, beispielsweise genutzt, um vor jedem Gerichtsprozess die Richter auszulosen – welche davon an welchem Prozess beteiligt waren und wo genau diese sitzen sollten wurde wiederum durch das Los bestimmt. So konnte vermieden werden, dass Richter vor den Prozessen durch die entsprechenden Parteien bestochen wurden. Recht wurde anschliessend gesprochen, in dem die ausgelosten Richter über jede Entscheidung abstimmten.
Losverfahren wie das Kleroterion garantierten politische Gleichheit, da wirklich jeder die exakt selben Chancen hatte, das Amt belegen zu dürfen – unabhängig von Reichtum oder Bildungsstand. Sie brachten aber auch den Nachteil mit sich, dass oftmals Laien, welche nichts von ihrem Amt verstanden, in politischen Positionen tätig waren. Dennoch lässt sich sagen, dass sich die attische Demokratie durch Gleichheit vor Gesetz, politischer Beteiligung aller Vollbürger und Volkssouveränität auszeichnete. Ausserdem lag die Regierungs-, Gesetzgebungs-, Gerichts- und Kontrollgewalt beim Volk.
Damit hatte wirklich jeder die exakt selben politischen Möglichkeiten, was die antike Demokratie demokratischer als die Moderne macht. Das heisst aber nicht, dass wir zum attischen System zurückkehren sollten, da dieses doch auch viele Nachteile mit sich bringen würde (wie beispielsweise die angesprochenen Laienpolitiker). Es gibt auch andere, fortschrittlichere Vorschläge, wie sich die politischen Ungleichheiten in unserer Demokratie verhindern lassen würden. Einer davon ist das Verhältnismässigkeitsprinzip, welches von Harry Brighouse und Marc Fleurbaey entworfen wurde.[3] Es besagt, dass man sich vom «one man – one vote» System trennen und die Stimmen anders gewichten sollte. Die Stimme derjenigen Personen, welche von einer politischen Entscheidung am meisten betroffen sind, würden gemäss dem Verhältnismässigkeitsprinzip am meisten Gewicht haben, die derjenigen, welche kaum betroffen wären, am wenigsten. Damit könnte sichergestellt werden, dass die Meinungen derer, welche unmittelbar betroffen sind, gehört werden – auch dann, wenn sie nicht der Meinung der Mehrheit der Bevölkerung entsprechen. Das Verhältnismässigkeitsprinzip wäre dementsprechend eine mögliche Lösung, durch die eine «Tyrannei der Mehrheit» erfolgreich verhindert werden könnte, und mit der die moderne Demokratie wieder demokratischer werden würde.
[1] Herodot: Historien, Band 1 [Bücher I-V], griechisch-deutsch, hg. von Josef Feix, Düsseldorf 7 2006 [Sammlung Tusculum], S. 80-83.
[2] Aristoteles: Politik, Buch IV-VI, übers. und erl. von Eckart Schütrumpf, Berlin 1996 [Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung Band 9/III].
[3] Brighouse, Harry and Fleurbaey, Marc (2010): Democracy and Proportionality. Journal of Political Philosophy 18(2), 137-155.
Ressourcen
Aristoteles: Politik, Buch IV-VI, übers. und erl. von Eckart Schütrumpf, Berlin 1996 [Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung Band 9/III].
Arneson, Richard J. (2003): Democratic Rights at the National Level. In: Christiano, Thomas, Philosophy and Democracy: An Anthology. Oxford: Oxford University Press, 95-115.
Brighouse, Harry and Fleurbaey, Marc (2010): Democracy and Proportionality. Journal of Political Philosophy 18(2), 137-155.
Hansen, Mogens H.: Die athenische Demokratie im Zeitalter des Demosthenes: Struktur, Prinzipien und Selbstverständnis, Berlin 1995.
Hansen, Mogens H.: The Athenian ecclesia and the Swiss Landsgemeinde, in: Kinzl/Raaflaub 1995, S. 324-349.
Herodot: Historien, Band 1 [Bücher I-V], griechisch-deutsch, hg. von Josef Feix, Düsseldorf 7 2006 [Sammlung Tusculum].
Schmidt-Hofner, Sebastian: Das klassische Griechenland: der Krieg und die Freiheit, München 2016.
Schmitz, Winfried: Die griechische Gesellschaft: eine Sozialgeschichte der archaischen und klassischen Zeit, Heidelberg 2014.
Stein-Hölkeskamp, Elke: Demokratie: die «herrschende Hand des Volkes», in: Stein-Hölkeskamp, Elke/Hölkeskamp, Karl-Joachim (Hg.): Erinnerungsorte der Antike: Die griechische Welt, München 2010, S. 487-509.
Thür, Gerhard, Das Gerichtswesen Athens im 4. Jahrhundert v. Chr., in: Burckhardt/ Ungern-Sternberg 2000, S. 30-49.